Alice im Wunderland im Gehirn: Wenn die Wahrnehmung verrücktspielt
Das Alice-im-Wunderland-Syndrom (AIWS) ist eine seltene neurologische Störung, die zu starken Wahrnehmungsverzerrungen führt. Betroffene erleben Episoden, in denen Objekte oder Körperteile größer (Makropsie) oder kleiner (Mikropsie) erscheinen als sie tatsächlich sind. Auch Entfernungen und Raumdimensionen können verändert wahrgenommen werden (Pelopsie, Teleopsie). Zusätzlich berichten manche über ein gestörtes Zeitgefühl oder das Empfinden, als seien sie in zwei Personen gespalten. Diese Symptome beruhen nicht auf Seh- oder Hörproblemen, sondern auf einer Fehlverarbeitung sensorischer Signale im Gehirn.
Das Syndrom wurde in den 1950er-Jahren erstmals beschrieben und erhielt seinen Namen in Anlehnung an Lewis Carrolls berühmte Romanfigur Alice, die im Wunderland ähnliche Wahrnehmungsveränderungen erlebt. AIWS tritt oft in Verbindung mit Migräne auf, insbesondere mit Migräne mit Aura. Dabei haben 20% dieser Migräneerkrankten solche Veränderungen schon einmal erlebt, die häufig einer Attacke auftrat.
Es kann aber auch durch andere Ursachen wie Virusinfektionen, Epilepsie oder bestimmte Medikamente ausgelöst werden. Bei Kindern tritt das Syndrom besonders häufig nach einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus auf.
Trotz wachsender wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gibt es bislang keine festgelegten diagnostischen Kriterien für AIWS in medizinischen Klassifikationen wie dem ICD-10 oder DSM-5. Die Diagnose erfolgt durch das Ausschließen anderer Erkrankungen sowie das Erkennen der typischen Symptome. Während die meisten Betroffenen nur gelegentliche Episoden erleben, können die Symptome in manchen Fällen über längere Zeiträume bestehen bleiben. Trotz der bizarren Wahrnehmungsveränderungen bleibt das Bewusstsein über die Unwirklichkeit der Sinneseindrücke in der Regel erhalten.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und aktuelle Forschung
Die Charité Berlin untersuchte die Häufigkeit von AIWS bei Menschen mit Migräne. Von 808 befragten PatientenInnen gaben 17 % an, mindestens einmal in ihrem Leben AIWS-Symptome erlebt zu haben. Besonders häufig traten Mikropsie und Telopsie auf – also das Gefühl, dass Objekte kleiner oder weiter entfernt erscheinen als sie wirklich sind. MigränepatientenInnen mit Aura berichteten häufiger über AIWS-Episoden als PatientenInnen ohne Aura (20 % vs. 14 %). Dennoch war eine Aura keine notwendige Voraussetzung, da fast die Hälfte der Betroffenen keine Auramigräne hatte.
Neben visuellen Verzerrungen berichteten viele über veränderte Körperwahrnehmungen (Mikro- oder Makrosomatognosie), Entfremdungsgefühle sowie eine gestörte Zeitwahrnehmung. AIWS-Episoden dauerten im Durchschnitt 38 Minuten und traten häufig vor, während oder nach einer Migräneattacke auf. Einige Betroffene empfanden Angst oder Traurigkeit während der Episoden, während andere eine ungewöhnliche Euphorie verspürten.
Da AIWS-typische Symptome einer Migräne-Aura ähneln, vermuten ForscherInnen, dass das Syndrom durch ähnliche Mechanismen ausgelöst wird. Eine mögliche Erklärung sind kortikale Depolarisationswellen, die bei Migräne-Auren auftreten und je nach betroffenem Hirnareal unterschiedliche Wahrnehmungsverzerrungen hervorrufen können. Dennoch sind die genauen Ursachen noch nicht vollständig erforscht.
Eine bibliometrische Analyse von 125 wissenschaftlichen Artikeln (1900–2019) zeigte, dass das Interesse an AIWS besonders seit 2008 zugenommen hat. Die meisten Publikationen stammen aus den USA, Japan, Italien und Deutschland. Inhaltlich konzentriert sich die Forschung auf den Zusammenhang zwischen AIWS und Migräne sowie Infektionen, insbesondere mit dem Epstein-Barr-Virus und Influenza. Es gibt jedoch nur wenige Studien zu Diagnostik und Therapie, sodass hier weiterer Forschungsbedarf besteht.
Fallbericht: AIWS nach Schlaganfall und Epilepsie
Ein besonderer Fall eines 69-jährigen Mannes verdeutlicht die Komplexität des Alice-im-Wunderland-Syndroms. Der Patient litt nach einem ischämischen Schlaganfall im rechten okzipitalen Lappen unter visuellen Halluzinationen. Er nahm zeitweise Menschen und Objekte verzerrt wahr: mal größer, mal kleiner, und auch seine eigene Körpergröße schien sich zu verändern. Hinzu kamen Farbwahrnehmungsstörungen. Eine MRT zeigte fortschreitende ischämische Schäden, während ein EEG eine fokale epileptische Aktivität nachwies.
Nach einer Behandlung mit Levetiraceta, einem Arzneistoff zur Behandlung von Epilepsie, besserten sich die Symptome zunächst. Doch einige Wochen später entwickelte der Patient unkontrollierbare Zuckungen im linken Bein, während er bei klarem Bewusstsein blieb. Ein erneutes EEG zeigte, dass diese Bewegungen mit epileptischen Entladungen in der rechten Gehirnhälfte korrelierten. Die Diagnose lautete epilepsia partialis continua, eine besondere Form des fokalen Status epilepticus. Nachdem der Patient mit Phenytoi, einem Arzneitstoff zur Behandlung von Epilepsie, behandelt wurde, verschwanden die Symptome – sowohl die epileptischen Zuckungen als auch die AIWS-Wahrnehmungsstörungen.
Dieser Fall zeigt, dass AIWS nicht nur mit Migräne, sondern auch mit epileptischen Anfällen und Schlaganfällen in Verbindung stehen kann. Die verzerrten Sinneswahrnehmungen entstanden vermutlich durch epileptische Aktivität in den betroffenen Hirnarealen.
Das Alice-im-Wunderland-Syndrom ist eine seltene neurologische Störung, die noch immer wenig erforscht ist. Besonders in Verbindung mit Migräne, Epilepsie und Infektionen tritt das Syndrom häufiger auf als bisher angenommen. Während die Symptome oft nur vorübergehend sind, können sie in Einzelfällen auch länger bestehen. Die Wissenschaft steht noch am Anfang, doch erste Erkenntnisse über die zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen könnten zukünftig zu besseren Diagnose- und Therapiemöglichkeiten führen.
Quellen:
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DocCheck, M. bei. (2025a). Levetiracetam. DocCheck Flexikon. Quelle
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