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Zwischen Hightech und Handhabung: Wie moderne myoelektrische Handprothesen Alltag, Steuerung und Körpererleben verändern

Myoelektrische Handprothesen ermöglichen Menschen mit Armamputationen oder angeborenen Fehlbildungen, sowohl das äußere Erscheinungsbild als auch zentrale Funktionen der Hand teilweise wiederzuerlangen. Gesteuert werden sie durch Muskelaktivität, die mittels Oberflächen-Elektromyographie (EMG) erkannt wird. Während einfache Standardprothesen (SHP) meist nur das Öffnen und Schließen über antagonistische Muskelpaare erlauben, bieten moderne Multi-Griff-Prothesen (MHP) durch mehrere motorisierte Finger differenzierte Greifmodi und eine feinere Steuerung. Der tatsächliche Nutzen dieser technologisch weiterentwickelten Prothesen ist allerdings umstritten: Viele Nutzerinnen und Nutzer berichten von hohen Kosten, erhöhter Komplexität und einer gewissen Fragilität, weshalb die Alltagstauglichkeit nicht immer gegeben ist. Frühere Studien zu diesem Thema litten oft unter kleinen und wenig diversen Stichproben, was zu widersprüchlichen Ergebnissen führte.

Die Studie von Kerver et al. (2023) greift diese Problematik auf und vergleicht SHP- und MHP-NutzerInnen anhand des ICF-Modells, das Gesundheit als Zusammenspiel von Körperfunktionen, Aktivitäten und sozialer Teilhabe begreift. Ein besonderes Augenmerk galt dabei der Frage, ob moderne MHPs kompensatorische Bewegungen – etwa durch übermäßige Schulter- oder Rumpfaktivität – verringern können. Zudem wurden Alltagstauglichkeit, Nutzerzufriedenheit und psychosoziale Aspekte untersucht. Die StudienteilnehmerInnen wurden über orthopädische Werkstätten, Rehabilitationszentren und Patientenorganisationen in den Niederlanden rekrutiert. Eingeschlossen wurden Personen mit transradialer Amputation oder Amputation auf Handgelenkshöhe, die mindestens 18 Jahre alt waren und ihre jeweilige Prothese bereits mindestens sechs Monate im Alltag nutzten.

An der Untersuchung nahmen 14 MHP- und 19 SHP-NutzerInnen teil. Während die SHP-Gruppe im Schnitt fast acht Jahre Erfahrung mit ihrer Prothese hatte, lag dieser Wert bei der MHP-Gruppe bei knapp vier Jahren. Beide Gruppen absolvierten motorische Tests, darunter den Box-and-Blocks-Test (BBT), den Southampton-Handfunktionstest (SHAP) und den Red-Cell-Ring-Test (RCRT), ergänzt durch Umfragen zur Lebensqualität, Zufriedenheit und Prothesenerleben. Die MHP-NutzerInnen führten zusätzlich einen direkten Vergleich durch: Sie testeten ihre eigene MHP sowie eine standardisierte SHP, die sie eine Woche lang im Alltag erproben sollten. Bei einer Hebeaufgabe benötigten MHP-NutzerInnen rund 12,5 Sekunden, SHP-NutzerInnen dagegen nur etwa 10 Sekunden. Bei anderen Aufgaben wie Geschicklichkeitstests zeigten sich kaum Unterschiede. Etwa drei Viertel der MHP-Träger bewegten ihre Gelenke ähnlich wie mit der Standardprothese, während ein Viertel andere Ausgleichsbewegungen zeigte. Die allgemeine Zufriedenheit mit der Prothese war in beiden Gruppen vergleichbar. SHP-NutzerInnen lobten besonders die Robustheit und einfache Handhabung, während MHP-NutzerInnen die vielfältigen Greifoptionen und die feinere Steuerbarkeit als Vorteile empfanden. Dennoch zeigte sich, dass die wahrgenommene Lebensqualität in der SHP-Gruppe tendenziell etwas höher war.

Ergänzend dazu liefert die Arbeit von Chapell et al. (2025) neue Erkenntnisse zur myoelektrischen Steuerung und zum sensorischen Feedback. Im Mittelpunkt steht ein neu entwickelter Controller für die OLYMPIC Hand 4, der drei aktive Freiheitsgrade (DOFs) – darunter Präzisions- und Kraftgriff sowie Unterarmrotation – simultan ansteuern kann. Eine Besonderheit stellt eine überarbeitete haptische Armbinde dar, die dem Nutzer kontinuierliches propriozeptives Feedback zur aktuellen Position und Kraft jedes Motors sowie zur Fingerstellung vermittelt. Dieses System wurde in einer Studie mit 28 gesunden Probanden und zehn Personen mit Gliedmaßenverlust untersucht. Die Teilnehmenden wurden vier Steuerungsgruppen zugewiesen: offen/diskret (OLDC), geschlossen/diskret (CLDC), offen/kontinuierlich (OLCC) und geschlossen/kontinuierlich (CLCC). Die zehn ProbandInnen mit Amputation testeten ausschließlich die CLCC-Konfiguration.

Zunächst wurden isolierte Steuerungsaufgaben durchgeführt, darunter ein Positionsabgleich über 30 Einzel-DOF- und 20 Doppel-DOF-Bewegungen sowie ein Kraftabgleich mit 20 Zielkräften. Die Ergebnisse zeigten deutliche Unterschiede: Die OLCC-Gruppe wies beim Positionsabgleich mit zwei gleichzeitig gesteuerten DOFs einen 54% höheren mittleren absoluten Fehler (MAE) auf als die CLCC-Gruppe. Auch beim Kraftabgleich war der Fehler in der OLCC-Gruppe signifikant höher im Schnitt um 22,3%. Bemerkenswert war, dass einige Teilnehmer mit Gliedmaßenverlust sogar bessere Ergebnisse erzielten als die gesunden Vergleichspersonen, insbesondere bei komplexen Zwei-DOF-Bewegungen. In einer sensorischen Objektidentifikationsaufgabe schnitt die CLCC-Gruppe ebenfalls gut ab und erreichte nahezu identische Werte wie die diskret gesteuerte OLDC-Gruppe – ein Hinweis auf die Effektivität des propriozeptiven Feedbacks. Teilnehmer mit sensorischen Einschränkungen zeigten erwartungsgemäß geringere Erkennungsraten.

Auch im Alltagstest – etwa beim Box-and-Blocks-Test oder beim Jebsen-Taylor-Handfunktionstest – ergaben sich zwischen den Gruppen keine signifikanten Unterschiede. Einige TeilnehmerInnen mit Amputation meisterten bestimmte Aufgaben mit hoher Geschicklichkeit, während andere durch anatomische Einschränkungen oder fehlende Restgliedlänge beeinträchtigt waren. Die subjektive Wahrnehmung der Prothesennutzung wurde mithilfe standardisierter Fragebögen erfasst. In frühen Testphasen berichteten Nutzer kontinuierlicher Steuerungen von höherer körperlicher Belastung. In der letzten Testphase meldete die CLCC-Gruppe jedoch die geringste physische Beanspruchung aller Gruppen – trotz zusätzlichem Gewicht durch die Armbinde. Die wahrgenommene Leistung stieg bei CLCC signifikant an, während Frustration und mentale Belastung sanken. Die stärksten Zusammenhänge zeigten sich zwischen Frustration und wahrgenommener Leistung. TeilnehmerInnen mit Gliedmaßenverlust berichteten tendenziell von höherer körperlicher Beanspruchung, was teilweise auf mangelnde Prothesenerfahrung oder erhöhte Anforderungen an das Restglied zurückzuführen ist.

Ein zentraler Aspekt der Studie war das sogenannte Verkörperungserleben – also das Gefühl, dass die Prothese Teil des eigenen Körpers wird. Dieses Gefühl nahm bei den meisten Teilnehmenden über die Testphasen hinweg zu, besonders in der CLCC-Gruppe. Einige Nutzer mit Amputation berichteten jedoch, dass die Prothesennutzung das Bewusstsein für den Verlust verstärke und das Gefühl körperlicher Vollständigkeit senke. Andere hingegen beschrieben eine zunehmend positive Integration der Prothese in ihr Körperbild.

Insgesamt zeigen die beiden Studien, dass technische Komplexität allein nicht ausreicht, um Prothesen alltagstauglicher zu machen. Entscheidend ist, wie intuitiv eine Steuerung funktioniert und wie gut das Nutzer-Feedback integriert ist. MHPs bieten grundsätzlich mehr Möglichkeiten, entfalten ihr volles Potenzial aber erst dann, wenn Steuerung und sensorisches Feedback eng aufeinander abgestimmt sind – wie bei der geschlossenen, kontinuierlichen Steuerung mit propriozeptivem Feedback. Die Ergebnisse legen nahe, dass zukünftige Entwicklungen vor allem auf eine bessere Nutzerintegration, geringere Belastung und ein höheres Gefühl von Kontrolle und Verkörperung abzielen sollten. Nur dann können moderne Prothesen ihre Versprechen auch im Alltag einlösen.

Quellen: 

Chappell, D., Yang, Z., Clark, A. B., Berkovic, A., Laganier, C., Baxter, W., Bello, F., Kormushev, P., & Rojas, N. (2025). Examining the physical and psychological effects of combining multimodal feedback with continuous control in prosthetic hands. Scientific Reports, 15(1), 3690. Quelle

Kerver, N., Schuurmans, V., van der Sluis, C. K., & Bongers, R. M. (2023). The multi-grip and standard myoelectric hand prosthesis compared: Does the multi-grip hand live up to its promise? Journal of NeuroEngineering and Rehabilitation, 20(1), 22. Quelle