Die Erforschung des Vitamin D Teil I: Von der Rachitis zur Entdeckung eines essenziellen Nährstoffs

Die Geschichte des Vitamins D ist eng verknüpft mit der Erforschung von Mangelkrankheiten wie Rachitis und Osteomalazie. Bereits im frühen 17. Jahrhundert berichteten Ärzte von deformierten Skeletten bei Kindern und Erwachsenen, ohne jedoch die genauen Ursachen dieser Leiden zu kennen. Abhandlungen dokumentierten Symptome wie verformte Gliedmaßen und vergrößerte Gelenke – typische Merkmale eines Vitamin-D-Mangels. Lithografien, wie sie im Werk De Rachitide von Francis Glisson (1650) (siehe Abbildung 1) zu finden sind, zeigen Kinder mit deutlich sichtbaren Verformungen. Die genaue Ursache blieb jedoch Jahrhunderte lang im Dunkeln.
Rachitis war in Europa weit verbreitet, besonders während der industriellen Revolution. Verschmutzte Luft durch Kohlefeuer, dichte Bebauung in Städten und die mangelnde Sonneneinstrahlung führten dazu, dass besonders Kinder in urbanen Gebieten kaum UV-Licht ausgesetzt waren. Dies verringerte die körpereigene Synthese von Vitamin D und förderte das Auftreten von Rachitis – einer Krankheit, die im Volksmund bald als „englische Krankheit“ bekannt wurde. Charles Dickens’ Figur Tiny Tim in A Christmas Carol gilt als literarisches Beispiel für die häufige Sichtbarkeit der Krankheit im viktorianischen England.
Die Ursachenforschung nahm erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Fahrt auf. Damals begann man zu verstehen, dass sowohl Umweltfaktoren als auch Ernährung eine Rolle bei der Entstehung von Rachitis spielten. Der polnische Arzt Sniadecki erkannte, dass Kinder auf dem Land seltener an Rachitis litten als Stadtbewohner – ein Hinweis auf die Bedeutung von Sonnenlicht. Der britische Arzt Percival wiederum empfahl Lebertran als Heilmittel, was den ernährungsbedingten Aspekt hervorhob.
Wissenschaftliche Debatten drehten sich zunehmend um die Frage, ob Licht oder Nahrung entscheidend sei. Studien wie jene von Theobald Palm, der frühe geografische Zusammenhänge zwischen Sonneneinstrahlung und Rachitis dokumentierte, traten in den Hintergrund, während experimentelle Arbeiten in den Fokus rückten. So führten in den 1910er und 1920er Jahren Forscher wie Kurt Huldschinsky und Alfred Hess (siehe Abbildung 2) Versuche mit Sonnenlicht und künstlicher UV-Bestrahlung durch – mit dem Ergebnis, dass UV-Licht Rachitis heilen könnte. Gleichzeitig zeigten Ernährungsexperimente, dass bestimmte Fette in der Nahrung – insbesondere Lebertran – das Wachstum förderten und Rachitis verhinderten. Die Entwicklung des Vitaminbegriffs selbst war ein bedeutender Schritt. Der polnische Biochemiker Casimir Funk (siehe Abbildung 3) postulierte 1912 die Existenz lebensnotwendiger Amine – „Vitamine“ – als essenzielle Nährstoffe, die dem Körper in kleinen Mengen zugeführt werden müssen. Diese Hypothese veränderte das Verständnis der Ernährungswissenschaft grundlegend. Wissenschaftler wie Elmer McCollum (siehe Abbildung 2) und Marguerite Davis identifizierten zunächst fettlösliche Faktoren (später als Vitamin A und D bezeichnet), die notwendig für die Gesundheit waren. Edward Mellanby wies nach, dass Hunde, die mit einer Vitamin-D-armen Diät gefüttert wurden, Rachitis entwickelten, die durch Zugabe von Lebertran geheilt werden konnte.
Die Entdeckung, dass Vitamin D auch durch UV-Licht erzeugt werden kann, führte zur Vereinigung der bis dahin konkurrierenden Hypothesen. Harry Steenbock (siehe Abbildung 2) wies an der Universität von Wisconsin nach, dass bestrahlte Lebensmittel Rachitis verhindern konnten. Steenbock zeigte, dass die Bestrahlung von Hefe zur Bildung einer aktiven Substanz führte – dem später identifizierten Vitamin D2. Seine Erkenntnisse führten zur Entwicklung der ersten angereicherten Lebensmittel, insbesondere von Milch, mit Vitamin D. Dies war ein bedeutender Schritt in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge.
Die Wisconsin Alumni Research Foundation (WARF), gegründet zur Verwertung von Steenbocks Patent, unterstützte in den Folgejahren zahlreiche Forschungsvorhaben, unter anderem von Nobelpreisträgern. Die Vitamin-D-Anreicherung wurde zu einer internationalen Strategie zur Bekämpfung von Rachitis, insbesonders bei Kindern. Doch die wissenschaftliche Geschichte dieses Vitamins war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht abgeschlossen.
Quellen:
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Holick, M. F. (2023). The One-Hundred-Year Anniversary of the Discovery of the Sunshine Vitamin D3: Historical, Personal Experience and Evidence-Based Perspectives. Nutrients, 15(3), 593. Quelle
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