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Dopamin, Basalganglien und Tics: Die neurobiologischen Hintergründe des Tourette-Syndroms

Das Tourette-Syndrom (TS) ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch unkontrollierte, wiederkehrende Bewegungen (motorische Tics) und Lautäußerungen (vokale Tics) bemerkbar macht. Die ersten Symptome treten meist schon im Kindesalter auf, oft zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr. Zunächst zeigen sich häufig motorische Tics wie Blinzeln oder Kopfrucken, bevor später vokale Tics dazukommen, die anfangs oft mit harmlosen Gewohnheiten wie Räuspern oder Hüsteln verwechselt werden. In den meisten Fällen nehmen die Symptome bis zum zehnten bis zwölften Lebensjahr zu, bevor sie im Erwachsenenalter allmählich wieder abklingen. Bei etwa 10 bis 20 Prozent der Betroffenen bleiben die Symptome jedoch bestehen oder verschlimmern sich sogar. Tics können kurzfristig unterdrückt werden, was jedoch oft zu einer verstärkten Entladung der Symptome führt. Faktoren wie Stress, emotionale Belastung oder Müdigkeit verstärken die Tics, während konzentriertes Arbeiten sie vorübergehend abschwächen. Häufig treten zusätzliche psychische Begleiterkrankungen auf, darunter Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Zwangsstörungen (Obsessive-Compulsive Disorder, abgekürzt OCD). Während ADHS oft vor den ersten Tics diagnostiziert wird, entwickelt sich OCD häufig erst in der Jugend und bleibt oftmals länger bestehen als die Tics.

Die Symptome des Tourette-Syndroms lassen sich mit Veränderungen in bestimmten Gehirnnetzwerken erklären. Eine zentrale Rolle spielen die Basalganglien, eine Hirnregion, die für die Steuerung und Hemmung von Bewegungen essenziell ist. Normalerweise unterdrücken hemmende Schaltkreise der Basalganglien ungewollte Bewegungen, doch beim Tourette-Syndrom scheint diese Hemmung beeinträchtigt zu sein. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Dysregulation des Dopamin-Systems. Eine übermäßige Freisetzung von Dopamin in den Basalganglien verstärkt motorische Tics. Dopamin ist ein zentraler Neurotransmitter in der Bewegungssteuerung und beeinflusst das Belohnungssystem. Eine verstärkte Dopaminfreisetzung trägt dazu bei, dass Tics als automatisierte Bewegungsgewohnheiten manifestiert werden und mit einer kurzfristigen Spannungsentlastung verbunden sind. Darüber hinaus spielt das sensomotorische Netzwerk eine entscheidende Rolle. Betroffene weisen eine erhöhte neuronale Aktivität im Inselkortex aus, einer Region, die für die Wahrnehmung innerer Körperempfindungen zuständig ist. Dies erklärt das charakteristische Dranggefühl (Premonitory Urge), das viele Betroffene unmittelbar vor einem Tic verspüren. Zusätzlich sind der anteriore cinguläre Kortex, der für Impulskontrolle zuständig ist, sowie der centromediane Thalamus, der Bewegungsabläufe reguliert, in das komplexe Geschehen involviert.

Neurophysiologische Studien haben gezeigt, dass während der tiefen Hirnstimulation (einer möglichen Therapieform) bestimmte Hirnregionen eine erhöhte niederfrequente Aktivität (1–10 Hz) aufweisen. Besonders im centromedianen Thalamus und im vorderen Pallidum sind solche Aktivitätsmuster messbar. Es wird vermutet, dass diese niederfrequenten Signale mit dem inneren Drang zur Tic-Ausführung zusammenhängen.

Die Diagnose des Tourette-Syndroms erfolgt klinisch anhand einer umfassenden Anamnese und neurologischen Untersuchung, da es keine spezifischen Labor- oder Bildgebungstests gibt. Typisch ist das gleichzeitige Auftreten motorischer und vokaler Tics, die sich im Laufe der Zeit verändern. Diese lassen sich in einfache (z. B. Blinzeln, Schulterzucken, Räuspern) und komplexe Tics (z. B. Bewegungsabfolgen oder das Wiederholen von Wörtern) unterteilen. Zur Beurteilung des Schweregrads wird häufig die Yale Global Tic Severity Scale (YGTSS) verwendet. Die Diagnose orientiert sich an den Kriterien des DSM-5, wonach die Symptome vor dem 18. Lebensjahr beginnen, über mindestens ein Jahr bestehen und sowohl motorische als auch vokale Tics umfassen müssen. Andere Erkrankungen wie Myoklonien, Epilepsie oder Zwangsstörungen müssen ausgeschlossen werden. Besonders während der COVID-19-Pandemie wurde eine Zunahme von tic-ähnlichen Symptomen bei Jugendlichen beobachtet, die nicht dem klassischen Tourette-Syndrom entsprachen. Eine klare Abgrenzung zu anderen Bewegungsstörungen ist daher entscheidend.

Die Behandlung des Tourette-Syndroms hängt von der Schwere der Symptome und dem individuellen Leidensdruck ab. Bei milden Tics ist oft keine Therapie notwendig, während bei stärkeren Symptomen Verhaltenstherapie, Medikamente oder neuromodulative Verfahren eingesetzt werden. Die Verhaltenstherapie, insbesondere das Habit Reversal Training (HRT) und die Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT), hat sich als besonders wirksam erwiesen. Sie hilft den Betroffenen, ihre Tics bewusst wahrzunehmen und alternative Bewegungsmuster zu entwickeln. Falls Verhaltenstherapie nicht ausreicht, können Medikamente wie Dopamin-Antagonisten (z. B. Tiaprid, Aripiprazol) helfen, obwohl sie Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder Gewichtszunahme haben. Eine weitere Behandlungsoption für TS sind Botulinumtoxin-Injektionen. Durch die Blockade der Acetylcholin-Freisetzung an der neuromuskulären Endplatte kommt es zu einer gezielten Muskelentspannung, wodurch motorische Tics abgeschwächt werden. Besonders lokale Tics, etwa im Gesichtsbereich, am Hals oder den Augenlidern, sprechen gut auf diese Therapie an. Die Hauptproblematik besteht in der Gefahr einer übermäßigen Muskelschwächung, weshalb die Injektionstechnik und Dosierung von einem erfahrenen Spezialisten durchgeführt werden sollte. Da viele herkömmliche Medikamente gegen TS erhebliche Nebenwirkungen haben, wächst das Interesse an alternativen und ergänzenden Therapieansätzen. Pflanzenpräparate wie das Ningdong-Granulat (NDG), die Choudongning-Kapseln und das 5-Ling-Granulat (5-LGr) konnten eine signifikante Tic-Reduktion bewirken. Auch Akupunktur wurde als potenziell wirksam beschrieben.

Darüber hinaus werden verschiedene Nahrungsergänzungsmittel erforscht. Taurin, das auf GABA-Rezeptoren wirkt, reduziert in Kombination mit Tiaprid Tics, ohne nennenswerte Nebenwirkungen zu verursachen. Die Rolle von Vitamin D ist bisher noch unklar. Ein ungewöhnlicher Therapieansatz ist die Verwendung eines speziellen Mundschienen-Geräts, das möglicherweise durch sensorische Reize Einfluss auf die Tic-Intensität nimmt. 

Derzeit laufen zahlreiche Studien, die neue Therapieoptionen für TS untersuchen. So wird beispielsweise der Wirkstoff Atomoxetin, ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, daraufhin geprüft, ob er die Impulskontrolle bei Betroffenen verbessern kann. Auch Serotonin-Modulatoren wie Pimavanserin werden getestet, insbesondere für Betroffene mit begleitender Depression oder Angststörung.

Ein neuer Forschungsansatz befasst sich mit der Darm-Hirn-Achse. Probiotika wie Lactobacillus plantarum PS128, die Neurotransmitter modulieren, werden daraufhin untersucht, ob sie Tics reduzieren. Erste Studien zeigten vielversprechende Effekte bei autistischen Kindern, weshalb derzeit klinische Tests zur Wirksamkeit bei TS laufen. Ein weiterer experimenteller Ansatz sind Stuhltransplantationen: In einer kleinen Untersuchung zeigte sich bei vier von fünf Betroffenen eine deutliche Verbesserung der Symptome.

In schweren Fällen kann die Tiefe Hirnstimulation (THS) eingesetzt werden, bei der Elektroden gezielt Hirnregionen stimulieren. Diese Methode greift direkt in die gestörten Netzwerke der Basalganglien ein und reduziert die Tic-Frequenz. Digitale Therapieangebote, darunter Online-Plattformen und Apps, bieten ebenfalls eine wertvolle Unterstützung an und sind in ihrer Wirksamkeit mit klassischen Verhaltenstherapien vergleichbar.

Insgesamt ist die Behandlung des Tourette-Syndroms individuell anzupassen. Verhaltenstherapie ist die erste Wahl, während Medikamente und neuromodulative Verfahren in schwereren Fällen hilfreich sein können. Das zunehmende Verständnis für die neuronalen Grundlagen der Erkrankung eröffnet neue Therapieansätze. Zukünftige Forschungen könnten gezieltere Eingriffe in die gestörten neuronalen Netzwerke ermöglichen und das Leben der Betroffenen nachhaltig verbessern.

 

Quellen: 

Frey, J., & Malaty, I. A. (2022). Tourette Syndrome Treatment Updates: A Review and Discussion of the Current and Upcoming Literature. Current Neurology and Neuroscience Reports, 22(2), 123–142. Quelle

Johnson, K. A., Worbe, Y., Foote, K. D., Butson, C. R., Gunduz, A., & Okun, M. S. (2023). Tourette Syndrome: Clinical Features, Pathophysiology, and Treatment. The Lancet. Neurology, 22(2), 147–158. Quelle

Jones, K. S., Saylam, E., & Ramphul, K. (2025). Tourette Syndrome and Other Tic Disorders. In StatPearls. StatPearls Publishing. Quelle

Müller-Vahl, K. (2019). Behandlung des Tourette-Syndroms. Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V. Quelle

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